Warten auf ein Organ in Zeiten von Corona

Frankfurt/Sylt – Sina Jürgensens Leben war schon vor der Pandemie nicht leicht: Die 36-Jährige wartet auf eine Spenderniere, seit sieben Jahren muss sie mehrmals die Woche zur Dialyse.

Das Coronavirus hat ihr Leben noch weiter zusammenschnurren lassen. «Als Risikopatientin habe ich mich stark isoliert», berichtet sie am Telefon. «Ich hoffe jeden Tag, dass ein Anruf kommt, dass ich transplantiert werde und die Woche wieder mehr als drei Tage normales Leben für mich hat.»

Corona ist ein unbekannter Gegner

Die blonde junge Frau lebt auf Sylt. Seit die Insel wieder für Besucher geöffnet wurde, hat sie noch einen einzigen Kontakt: ihren Freund. Selbst mit ihrer Mutter telefoniert sie nur, Freunde sieht sie nur im Internet. Wenn sie das Haus verlässt, trägt sie Maske und Handschuhe – ebenso wie ihr Freund, der in der Gastronomie arbeitet. Wenn er nach Hause kommt, lässt er seine Kleider vor der Türe liegen, im Lokal zieht er sicherheitshalber noch ein Visier über die Maske.

Vielleicht ist das übertrieben, denkt sie manchmal. «Aber als Wartelisten-Patientin bin ich besonders gefährdet. Ich weiß nicht, wie mein Körper mit einer Infektion fertig würde. Würde ich das überleben?» Gesundheitliche Herausforderungen ist Sina Jürgensen gewohnt, «aber Corona ist ein unbekannter Gegner». Mit nur 29 Jahren versagten ihre Organe, wieso, wurde nie geklärt. Drei Monate wurde sie in Hamburg auf der Intensivstation am Leben gehalten, bis nach und nach die meisten Organe wieder funktionierten – außer den Nieren.

Die Dialyse sei «eine Qual», berichtet sie. Die Prozedur dauert von 6.45 Uhr bis 12.45 Uhr. Vorher fühle sie sich schlecht. «Ich merke, wie mein Körper langsam vergiftet. Ich werde immer schlapper und schwächer.» Die Dialyse selbst sei «wie stundenlanges Joggen: Man denkt, jetzt kann ich nicht mehr, aber man muss weiterlaufen.» Nachher fühle sie sich, «als würde ich eine Grippe bekommen – Gliederschmerzen, Übelkeit, manchmal Fieber». Erst am nächsten Tag wird es langsam wieder besser.

So konzentriert sich ihr Leben auf drei Tage in der Woche – am Sonntag fühlt sie sich immer schon so schlecht, dass sie nicht mehr viel unternehmen kann. An den guten Tagen will sie «der Krankheit möglichst wenig Platz einräumen». Sie arbeitet stundenweise in der Buchhaltung, natürlich im Homeoffice. Das gebe ihr das Gefühl, «ein Teil der Gesellschaft zu sein». Sie hat einen Hund und neuerdings sogar ein Pferd. Draußen in der Natur zu sein hilft ihr, «um mich fit zu halten», sagt sie. «Nach fast sieben Jahren versuche ich immer noch, im Augenblick zu leben.»

Kein Rückgang der Organspender durch die Pandemie

Wie Sina Jürgensen geht es nach Angaben der Deutschen Gesellschaft Organtransplantation (DSO) etwa 9000 Menschen in Deutschland. Laut DSO hat die Corona-Krise die Situation der Patienten auf der Warteliste bisher nicht weiter verschlechtert. Im Januar und Februar lag die Zahl der postmortalen (nach dem Tod) Organspender deutlich über dem Vorjahr und selbst im März und April sei es bisher «nicht zu einem deutlichen Rückgang der Organspende in Deutschland gekommen», betont der Medizinische Vorstand der DSO, Axel Rahmel.

Von Januar bis Ende April 2020 gab es bundesweit 330 postmortale Organspender. 2019 waren es im selben Zeitraum 296. «Damit weicht die Entwicklung von der in vielen anderen europäischen Ländern ab», sagt Rahmel. Aus Italien wurde ein Rückgang der Organspende um 30 Prozent, aus Spanien um über 50 Prozent gemeldet.

Auch die Sorge vieler Menschen auf der Warteliste, eine Transplantation könnte an mangelnden Intensivkapazitäten scheitern, hat sich laut DSO bisher nicht erfüllt. «Nach unseren Erfahrungen in den vergangenen Wochen denken die Entnahmekrankenhäuser weiterhin an die Organspende. Organspender werden weiterhin gemeldet und Organtransplantationen finden weiterhin statt.»

Am 6. Juni ist der bundesweite
Tag der Organspende. Zum ersten Mal seit 37 Jahren wird es keine Live-Veranstaltungen geben. Statt wie geplant in Halle findet der Infotag nur online statt. Geplant ist unter anderem eine Aktion namens «Geschenkte Lebensjahre», für die Organempfänger ein Foto von sich hochladen mit einem Schild, das die Zahl der ihnen geschenkten Lebensjahre zeigt.

Gescheiterte Widerspruchslösung

Anfang 2020 war eine Gesetzesinitiative gescheitert, die nach Überzeugung ihrer Befürworter die Chancen für mehr Organspenden entschieden verbessert hätte: die sogenannte Widerspruchslösung. Damit wäre jeder als Organspender in Frage gekommen, der dem zuvor nicht explizit widersprochen hätte.

Zu den Medizinern, die das bis heute bedauern, gehört der Präsident der Landesärztekammer Hessen, Edgar Pinkowski. «Auch in Zeiten der Corona-Pandemie müssen wir an Menschen erinnern, deren Leben von einer Organtransplantation abhängt», sagte er vor dem Tag der Organspende. «Ich appelliere an jeden Einzelnen, über die persönliche Bereitschaft zur Spende nachzudenken und die – hoffentlich positive – Entscheidung schriftlich festzuhalten. Nur so kann die Lebensrettung vieler Tausender gelingen».

Die Widerspruchslösung war auch für Sina Jürgensen «ein Lichtblick, dass sie scheiterte «eine Enttäuschung». Und dann kam auch noch Corona. Ihre erste Reaktion: «Bitte nicht noch länger warten!» Sie wünscht sich, «dass jeder Mensch zumindest einmal darüber nachdenkt, was er tun würde, wenn er selbst oder ein geliebter, ihm nahe stehender Mensch auf eine Transplantation angewiesen wäre.»

Fotocredits: Soeren Stache
(dpa)

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Mediziner